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Je schwächer die HeldInnen, desto stärker die Literatur! Warum Loser & Leidende für die Literatur gut sind.

Veröffentlicht am 23.06.2020

(02.01.2020)

Warum ist es besser für die Literatur, wenn ihre Helden keine sind? Warum können gute Helden gar nicht erfolglos, unglücklich und weltfremd genug sein?

Geht es dabei vielleicht um eine Art Abwehrzauber, also darum, dass der tragische Held – gewissermaßen als ritueller Sündenbock oder magische Voodoo-Puppe – stellvertretend für Autorin und Leser leiden und sterben muss? Damit wir uns beim Schreiben und Lesen gemütlich unter die Decke des eigenen, noch mal davon gekommenen Lebens kuscheln können, ganz nach dem Motto: verglichen mit der Irrfahrt des Odysseus war die gestrige Bahnfahrt eigentlich gar nicht so schlimm, oder: gemessen an den familiären Verstrickungen des Ödipus war der letzte Familienurlaub noch ganz erträglich.

Es hilft, das eigene Leben zu ertragen, wenn man immer mal wieder daran erinnert wird, dass es noch schlimmer hätte kommen können. Tragische Heldinnen wie Antigone, Iphigenie, Julia Capulet, Anna Karenina, Hedda Gabler, Fanny Goldmann und viele, viele andere geben uns das wohlig-satte, vielleicht klammheimlich schadenfrohe Gefühl, beim Lesen auf dem Sonnendeck des Lebens zu liegen. Das Böse und Unglückliche wird ins Buch gebannt, damit es keine Macht mehr über unsere Realität hat. Die Literatur zeigt uns, wie grauenvolle Tragödien sich anfühlen, ohne dass wir selbst daran zugrunde gehen. Was uns beängstigt und verstört, Dinge, die wir im eigenen Leben lieber nicht an uns heranlassen, werden so stellvertretend erlebbar. Das gilt für Horror und Unglück wie für Sex and Crime. Mit Lust und Neugier sondieren wir die „Tiefe“ der „letzten“, schrecklichen oder verbotenen Dinge und bleiben dabei hübsch gemütlich im Ohrensessel.

Prinzipiell gilt das für Leser genau wie für Autorinnen, vielleicht mit dem mehr oder weniger entscheidenden Unterschied, dass man als Autorin, oder frau als Autor, ähnlich wie SchauspielerInnen auf der Bühne, jenes in die Fiktion zu bannende Böse und Unglückliche relativ weit oder tief oder nah ins persönliche Erleben, ja bis in den eigenen Körper herein lassen muss. Ich will nicht soweit gehen zu behaupten, man oder frau müsse das dargestellte Leid am eigenen Leibe erfahren haben, um glaubhaft davon zu erzählen, denn wozu gibt es Sprache und Phantasie? Doch wer konkrete Gefühle und Situationen schildert, muss, das zumindest zeigt meine eigene Schreiberfahrung, diese Gefühle und Situationen – versuchsweise – so plastisch wie möglich in sich wachsen lassen und austesten. Das gilt für banale Dinge wie das Öffnen eines Fensters so gut wie für Schilderungen hochkomplexer Gefühle von Trauer, Enttäuschung, Hass oder Demütigung.

Warum aber sind wir nicht nur von scheiternden Helden ergriffen, sondern oft noch viel mehr von unfähigen, melancholischen oder zerstreuten Anti-Helden, von Schwächlingen, Versagern und Verlierern, bei denen von Anfang an klar ist, dass sie gar nicht gewinnen können? Warum geht uns das Schicksal eines Werther, Nathanael, Woyzeck, Malte Laurids Brigge, Gregor Samsa oder Hans Castorf so viel näher als das von Ödipus, Othello oder Wallenstein?

Der tragische Held der klassischen Tragödie scheitert an einer übergroßen, unlösbaren Aufgabe, sein Scheitern hat einen Zug ins Erhabene. Tragische Helden haben keine Wahl, weil sie zwischen zwei sich widersprechenden hehren Prinzipien, zwei archaischen Gesetzen aufgerieben werden und am Scheidewege sehenden Auges quasi automatisch in den Abgrund driften. Das genau ist ihre Tragik. Dass sie da stehen, nicht anders können und kein Gott ihnen hilft. Der gewöhnliche Loser hingegen ist kaum tragödienfähig, jedenfalls nicht im pompös klassischen Sinn. Für ihn gelten keine großartigen mythischen Gesetze. Er ist dem Ganzen schlicht nicht gewachsen, ihm fehlt der Durchblick, die Einsicht, die Kraft. Getrieben von dunklen, ihm selbst kaum bewussten Motiven, verstrickt in undurchsichtige Zusammenhänge, ausgestattet mit eher überschaubaren Ressourcen und Talenten, schlägt er sich, mehr schlecht als recht, durchs Buch und durch sein Leben. Von Anfang an ahnen wir, dass das nur schief gehen kann. Trotzdem zittern wir mit ihm.

Ich spreche übrigens ganz bewusst von „ihm“, dem männlichen Loser-Helden, weil mir zwar etliche tragische Heldinnen in den Sinn kommen: Medea, Kassandra usw., Loserinnen im engeren Sinne jedoch erst in der neueren und allerneuesten Literatur, z.B. die Ich-Erzählerinnen aus Marlen Haushofers Die Mansarde und Ingeborg Bachmanns Malina, Elfriede Jelineks Klavierspielerin Erika, oder die Ich-Erzählerinnen aus Sibylle Bergs Der Mann schläft, Irena Brežnás Schuppenhaut oder aus Anne Webers Luft und Liebe. Wahrscheinlich ist es mit den Loserinnen in der Literatur wie mit den Chefinnen in der Wirtschaft: Echte Gleichberechtigung ist erst erreicht, wenn auch mittelmäßige Frauen an die Macht bzw. ins Buch kommen. Es genügt nicht, Frauen die Helden- oder die Schurkenrolle zu geben, Mythen und Märchen sind voll von guten und bösen Frauen. Es braucht auch keine Wellness-„Frauenliteratur“ mit möglichst starken und patenten Heldinnen, die den LeserInnen vorturnen, wie frau sich möglichst tough und selbstbewusst durch den Familienalltag schlägt.  

Was es hingegen braucht, ist das, was Lessing den „mittleren Charakter“ genannt hat, als es im 18. Jahrhundert darum ging, den Bürger als ernstzunehmende literarische Figur durchzusetzen. So ein mittlerer Charakter hat den Helden der klassischen Tragödie eines voraus: Menschenmaß. Seine Probleme, seine Grenzen und Selbstzweifel sind dem Publikum vertraut. Und so, wie es den mittleren Charakter des bürgerlichen Trauerspiels brauchte, um klar zu machen, dass Götter und Adel nicht länger der Maßstab aller Dinge waren, braucht es heute den „interessanten“ Frauencharakter. Es braucht „Zerrissene“ und „Schwierige“, ungeschickte, verträumte Taugenichtsinnen, komplizierte und neurotische Zweiflerinnen, sarkastische Misanthropinnen, narzisstisch gekränkte, größenwahnsinnige Hochstaplerinnen, sexsüchtige Erotomaninnen, menschenscheue Einzelgängerinnen, naive Idealistinnen und melancholische weibliche Würstchen. Das ganze Repertoire, die ganze elende Kiste voller Anti-Heldinnen, lauter anrührend verkorkste, anrührend verblendete, anrührend verlorene Loserinnen! „Verwirklichung“ wäre hier – in Anlehnung an Christa Bürgers Kritik an der „Entwirklichung“ der Frau – das Stichwort. Keine neuen Rollenvorgaben, Muster, Idealisierungen, Stilisierungen und Standards, stattdessen: die ganze fette, pralle Wirklichkeit, in all ihren merkwürdigen und einzigartigen Facetten.

Dabei geht es, wohlgemerkt, keineswegs um „Normalität“. Auch Lessings mittlerer Charakter war kein langweiliger Spießer. Denn der Spießer kommt seinem Misserfolg zuvor, indem er sich vorauseilend das Träumen verbietet und brav in den vorgegebenen Mustern agiert. Loser und Loserin dagegen geraten unter die Räder, weil ihre Mittel und Talente den Träumen nicht gewachsen sind. Moderne mittlere Charaktere sind also Figuren, denen es sowohl an heldenhafter Großartigkeit als auch an tragischer Fallhöhe gebricht, weil sie von Anbeginn einfach zu „mittelmäßig“ sind, um ihren hochtrabenden oder tiefschürfenden Ambitionen gerecht zu werden. Die Leserschaft versteht und verzeiht. Denn diese Mittelmäßigkeit hat ganz grundsätzlich zu tun mit unserer Conditio humana. Und das macht Anti-HeldInnen interessant.

Niemand ist persönlich verantwortlich zu machen für seine eigene Mittelmäßigkeit, sein Ungeschick oder seine Dummheit. Das ganze Zittern und Zappeln des unglücklichen Helden beweist ja nur, dass Glückseligkeit – im Gegensatz zu den Verheißungen der amerikanischen Verfassung mit ihrer legendären „pursuit of happiness“ – eben nicht der Zweck der menschlichen Natur ist. Und in der Kunst hat das Glück schon rein gar nichts verloren.

Höchst gestreng und mit weitreichenden Folgen sprach sich bereits der deutsche Idealismus gegen das Glück in der Kunst aus. Dem Schönen in der Kunst sei mit „interesselosem Wohlgefallen“ zu begegnen, befand Immanuel Kant, wehe! man ließ sich zum Kunstgenuss hinreißen, und Friedrich Schiller nennt in seinem ziemlich steifbeinigen Essay Ueber den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen als den wahren Grund, warum wir uns am Unglück des Helden ergötzen, die „moralische Lust“. Was uns heute wie ein Oxymoron vorkommt, bedeutete für den Idealisten Schiller nichts als die strenge Notwendigkeit, das bürgerliche Sittengesetz der Vernunft mit Inbrunst zu bejahen.

Als ruheloser Dialektiker setzte Hegel hier noch einen drauf: Sein vom Telos des „absoluten, vernünftigen Endzwecks“ getriebener Weltgeist hat für Glück und ähnliche Nichtigkeiten gar keine Zeit: „Die Weltgeschichte ist nicht der Boden des Glücks. Die Perioden des Glücks sind leere Blätter in ihr; denn sie sind die Perioden der Zusammenstimmung, des fehlenden Gegensatzes.“ Das ist geradezu literarisch gedacht: Ohne Konflikt keine Geschichte! Oder, um es tautologisch zu sagen: das Happy-End kommt erst, wenn die Handlung schon vorbei ist. Jedes Storytelling-Handbuch, jedes halbwegs durchdachte Plot-Engineering hält sich an diese geschichtsphilosophische Binsenweisheit. Noch Adorno scheint dem Prinzip der glücklosen Kunst zu folgen: Im falschen Leben kann es weder glückliche Kunst noch glückliche Helden geben. Glück ist eine utopische (Un-)Möglichkeit, eine „Chimäre“, über die man nur abstrakt und theoretisch, nicht aber „affirmativ“ spricht. Wladimir und Estragon warten vergeblich.

Halten wir fest: Not und Unglück, Leid und Missgeschick gehören zu jeder schmackhaften Intrige wie das Salz in der Suppe. Der Hintern des Teufels ist – rein literarisch betrachtet – einfach sexyer als das Angesicht Gottes. Das wusste schon Ernst Bloch. Und dass Dantes Höllendarstellungen um vieles spannender sind als die langweiligen theologischen Symposien, die offenbar vornehmlich in himmlischen Sphären abgehalten werden, ist ebenfalls eine Binsenweisheit, übrigens nicht nur der Literatur. Auch der gemeine Sünder folgt diesem bewährten ästhetischen Prinzip. Denn er weiß: Glück und Unglück haben nicht nur eine dramaturgische, sie haben auch eine metaphysische Dimension.

Deswegen genügt es auch nicht, hier einfach nur Paul Watzlawicks Anleitung zum Unglücklichsein zu folgen und beim Verfassen moderner Loser-Geschichten die selbstverschuldeten Absurditäten schlechter Lebensführung aufzudecken und bloßzustellen. Der gute schlechte Held gerät prinzipiell unverschuldet in seinen Schlamassel. Das ist der springende Punkt des ganzen Settings. Auch bei geringer tragischer Fallhöhe ist die Unschuld – rezeptionstechnisch gesehen – das dramaturgische Auffangnetz.

Schließlich geht es um Mitleid. Das wusste schon Aristoteles mit seiner Theorie der Katharsis, der Läuterung der lesenden oder zuschauenden Seele durch die emotionalen Funktionen von Eleos (Mitleid, Jammer, Rührung, Barmherzigkeit heute gerne auch: Empathie) und Phobos (häufig übersetzt mit „Furcht“, „Schrecken“, „Schauder“ oder „Panik“). Im christlichen Modell wurde das legitime Entsetzen über die Grausamkeit der Götter dann aber abgeschafft. Von nun an ging es vor allem um die Anerkennung der theologischen Ordnung, um den absoluten Glauben an einen zwar prinzipiell guten, oft aber irgendwie zerstreuten oder launenhaften Gott, dem es aus unerfindlichen Gründen einfach nicht gelang, Unglück und Böses von seinen geliebten Geschöpfen abzuwenden. Das fromme Publikum war vornehmlich zum Nachvollzug seines unerforschlichen Ratschlags angehalten.

Der Theodizee-Gedanke (zu deutsch: Wie kann Gott, der Gute und Allmächtige, das Böse zulassen, ohne selbst des Teufels zu sein oder gar nicht zu existieren?) hat die Sache mit dem menschlichen Unglück und die Causa des Bösen dann zwar letztgültig verhandelt und mit großer theologischer Spitzfindigkeit ein für alle Male geklärt, indem das Widersprüchliche und Unverständliche zum Paradoxon des Heiligen geadelt wurde. Was die Vernunft nicht begreife, sei der Urgrund des Glaubens. Nur der, der glaube, obwohl die Sache nicht zu begreifen ist, sei wahrhaft fromm und werde – infolge edler Blödigkeit – der Gnade teilhaftig. Das Mitleid mit dem unglücklichen Helden, das jammervolle Erstaunen über all die qualvollen Stationen seiner Passionsgeschichte, mündete also gewissermaßen im Gebet. Je unverständlicher und ungerechter das Schicksal, desto größer die Herausforderung an den Glauben.

Einige Theologen behaupteten zwar, das menschliche Leiden sei die Strafe für begangene Sünden oder – schon moderner gedacht – der Preis für die menschliche Freiheit. Hinzu komme sein gewissermaßen erzieherischer Wert: wem es auf Erden zu gut gehe, werde übermütig und vergesse, seinem Schöpfer zu danken. Andere wiederum behaupten, es sei dem lieben Gott irgendwann einfach zu dumm geworden, sich um jeden Dreck persönlich zu kümmern, schließlich sei Gott, siehe Jesus, auch nur ein Mensch. – Wie dem auch sei, das fromme Kind lernte, hier nicht weiter nachzufragen und sein Schicksal zu guter Letzt wie Hiob tapfer zu ertragen.

Das Problem der Gerechtigkeit blieb dabei allerdings auf der Strecke. Irgendwann begann die Fragerei dann von Neuem. Seitdem schlägt die Literatur sich damit herum. Vom Schrecken des Lissabonner Erdbebens von 1755, das Voltaire, Kant und Goethe zu ziemlich atheistisch anmutenden Werken inspirierte, über den Horror des Ersten Weltkriegs bis zu den Gräueln der Shoah: Im Fokus steht das Mitleid mit den Opfern, dessen Unglück von blinden Naturgewalten, faszinierenden oder dummen und banalen Verbrechern verursacht wird. Die säkularisierte Leserschaft ist sich einig: Solches Unglück ist sinnloser Skandal, seine Schilderung literarische Subversion. Loser und Loserin haben keine Chance, weder die Kraft noch das Wissen, die Welt zu verbessern.

Genau dafür aber lieben wir sie. Und mit literarischen Figuren ist es ähnlich wie im realen Leben: Wir verlieben uns in die Stärken des anderen, unsere Liebe aber wird tiefer und intensiver, wenn wir uns in seine Schwächen verlieben. Das aber gilt nicht nur für ProtagonistInnen. Es gilt auch für Erzähler und Erzählerin. Als Leserin möchte frau auf Augenhöhe sein. Der/die ErzählerIn soll weder allwissend noch überglücklich sein. Sehr schön auf den Punkt gebracht hat das Georgi Gospodinov: „Für gewöhnlich wird die Geschichte von dem erzählt, der sich in einer schwachen Position befindet. Das wird am deutlichsten bei Scheherazade. Eine todgeweihte Frau erzählt Geschichte um Geschichte, um Nacht um Nacht zu gewinnen“ (Physik der Schwermut).

Die unglückliche, aber interessante Heldin kann nicht die Erfindung einer/s allwissenden, überglücklichen und erfolgreichen Erzählerin sein. Als Autorin sollte man sich also davor hüten, aus lauter Übermut und falsch verstandener Omnipotenz in die narzisstische Falle zu tappen und die Heldin in allzu positivem Licht erstrahlen zu lassen, insbesondere, wenn diese aus der Innenperspektive beschrieben und erzählt wird. Sätze wie: „Sie reichte ihm ihre gepflegte und mit Sorgfalt manikürte Hand“ oder: „Sein anerkennender Blick folgte ihren geschmeidigen Bewegungen“ sind tunlichst zu vermeiden, der Hass der Leserschaft ist einem gewiss...

Der „intellektuelle Frauenroman“, wie ich das ominöse Projekt halb scherzhaft mal genannt habe, darf Schwäche zeigen, Heldinnen und Erzählerinnen sollen „interessant“ sein, aber bitte weder perfekt noch allzu cool, weder krampfhaft „stark“ und erfolgreich noch allzu smart und allwissend. Sie dürfen klug und schön sein, nur nützen sollte ihnen das nicht. Federführend sind Freiheit und Phantasie und ein ganz grundsätzliches, melancholisch gefärbtes Wissen um die Unzulänglichkeiten der Welt.